15 Jahre Minimierung von Acrylamid in Lebensmitteln

Signalwerte ♦ Indicative Values ♦ Benchmark Levels
Gut 15 Jahre ist es nun her, dass eine schwedische Forschergruppe durch Zufall auf die inzwischen umfassend untersuchte Substanz Acrylamid traf und diese als Prozesskontaminante, also als Kontaminante, die im Rahmen des Herstellungsprozesses von Lebensmitteln entsteht, entdeckte. Damals, im Jahre 2002, war man auf der Suche nach einem Marker für die berufliche Acrylamidbelastung von Arbeitern. Dafür verglich man die Arbeiter mit einer Kontrollgruppe von Nicht-Arbeitern. Nachdem aber auch bei dieser angeblich unbelasteten Vergleichsgruppe Acrylamid im Blut nachgewiesen wurde, musste man nach einer anderen Ursache für diese Hintergrundbelastung mit Acrylamid suchen ‒ und wurde fündig. Die Belastung stammte aus erhitzen Lebensmitteln!
Acrylamid kann bei der Herstellung von Lebensmitteln entstehen, vor allem aus der freien Aminosäure Asparagin und bestimmten reduzierenden Zucker (Glucose und Fructose). In diesem Fall kann es während der Erhitzung im Lebensmittel zur sogenannten Maillard-Reaktion und damit zur Bildung von Acrylamid kommen.

Aus toxikologischer Sicht ist die Aufnahme hoher Acrylamidmengen als durchaus relevant einzustufen. Im Tierversuch konnte Acrylamid krebserzeugende und erbgutverändernde Eigenschaften nachgewiesen werden. Demzufolge wird es von der internationalen Agentur für Krebsforschung (IARC, International Agency for Research on Cancer) in die Kategorie 2A, also einen wahrscheinlich kanzerogenen (krebsauslösenden) Stoff für den Menschen, eingeordnet. Bei der Verstoffwechslung von Acrylamid entsteht außerdem Glycidamid, welches ebenfalls als toxikologisch relevant gilt. Acrylamid gilt somit als Vorreiter einer bis dato völlig neuen Gruppe von toxikologisch bedeutsamen Stoffen, den sog. „foodborne toxicants“.

Nationale Signalwerte

In Deutschland etablierten Bund und Länder in Zusammenarbeit mit der deutschen Lebensmittelwirtschaft noch 2002 ‒ dem selben Jahr, in dem die ersten Acrylamidbefunde in Lebensmitteln veröffentlicht wurden ‒ ein dynamisches Minimierungskonzept, auf der Basis sog. Signalwerte. Diese nationale Minimierungsstrategie wurde auch als „Signalwertkonzept“ bezeichnet. Auf Grundlage von Acrylamid-Gehaltsdaten aus der amtlichen Lebensmittelüberwachung wurden vom Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) jährlich Signalwerte für die jeweiligen Produktgruppen berechnet und veröffentlicht. Mit diesem dynamischen Ansatz des nationalen „Signalwertkonzeptes“ wurden die Acrylamid-Gehalte in Deutschland u.a. in den Warengruppen feine Backwaren aus Mürbeteig, Frühstückscerealien ohne Müsli, gerösteter Kaffee, Kartoffelchips, Kleinkindergebäck, Diabetikerbackwaren und Spekulatius in den Folgejahren sehr erfolgreich abgesenkt. Bisher wurden in den Jahren 2002 bis 2010 acht Signalwertberechnungen durchgeführt. Die Ergebnisse dieser Berechnungen ausgewählter Lebensmittel sind in Abbildung 1 dargestellt. Als Ergebnis der Signalwertberechnungen konnte eine signifikante Absenkung der Signalwerte in fast allen Warengruppen beobachtet werden.

Abbildung 1: 8. Signalwertberechnungen der Jahre 2002 ‒ 2010 ausgewählter Lebensmittel




An dieser Stelle erwähnt werden sollte die beispielslose Erfolgsgeschichte der in Deutschland produzierenden Kartoffelchipshersteller, die die Wirksamkeit der bereits seit April 2002 bis heute durchgeführten weitreichenden Minimierungsmaßnamen in Form einer regelmäßig aktualisierten Wochenmittelwert-Grafik veröffentlichen (www.lci-koeln.de).

Europäische Indicative Values bzw. Benchmark Levels

Entsprechend dem Vorbild des deutschen Minimierungskonzeptes wurden auf EU-Basis seit 2007 im Rahmen eines umfangreichen Monitoring-Programms Acrylamid-Daten in zahlreichen Warengruppen gesammelt und auf dieser Basis im Jahre 2011 erstmals Richtwerte (sog. Indicative Values) in Form einer Kommissionsempfehlung veröffentlicht.

Inzwischen setzt die Europäische Kommission bei der Regulierung von Acrylamid in Lebensmitteln auf ein flexibles Konzept zur Minimierung der Acrylamid-Gehalte. Dabei sollen „best practice“-Leitfäden (sog. „Code of Practice“, CoP) der europäischen Fachverbände aufgegriffen und die Verbindlichkeit für die Branchenbeteiligten erhöht werden. Daneben sollen auch die früheren „Indicative Values“ als Referenzwerte für die erfolgreiche Implementierung von Minimierungsmaßnahmen (zukünftig „Benchmark Levels“) in das Regulierungsvorhaben einfließen. Der Ansatz der Europäischen Kommission trägt der Vielfalt der betroffenen Produkte und Einflussfaktoren bei der Entstehung von Acrylamid Rechnung und ist somit nach Auffassung der Lebensmittelwirtschaft eine geeignete Grundlage für eine fortlaufende europaweite Minimierung. Die Arbeiten an diesem Vorhaben dauern aktuell noch an. Der am 19. Juli 2017 verabschiedete Verordnungs-Entwurf soll am 24. Juli 2017 dem Europäischen Parlament vorgelegt werden.

Da das Ziel der Lebensmittelbehörden, BfR (Bundesinstitut für Risikobewertung) und EFSA (Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit), sowie der Wirtschaft die stetige Minimierung der Gehalte an Acrylamid in Lebensmitteln ist, liegen die Werte der geplanten Benchmark Level jeweils deutlich unterhalb denen der bisherigen Richtwerte (s. Abb. 2).


Abbildung 2: Vergleich der 8. Signalwertberechnung ausgewählter Lebensmittel, 1) www.bvl.bund.de, 2) EU-Kommission (2011) Empfehlung der Kommission vom 10.1.2011 zur Untersuchung des Acrylamidgehalts von Lebensmitteln, 3) SANTE/11059/2016 ANNEX Rev. 3 (POOL/E2/ 2016/11059/11059R3-EN ANNEX.doc) D048379/05[...] (2017) XXX draft




Aufgrund der nicht auszuschließenden gesundheitlichen Relevanz von Acrylamid für die menschliche Gesundheit und der toxikologischen Eigenschaften seines Metaboliten Glycidamid sollten die Acrylamid-Gehalte in Lebensmitteln laut EFSA und BfR jedoch im Sinne des ALARA-Prinzip (as low as reasonably achievable), möglichst niedrig sein.