Minimierungskonzept für Acrylamid in Lebensmitteln - Signalwerte

Neue Entdeckung

Seit der erstmaligen, größtmögliche Überraschung auslösenden Entdeckung von
Acrylamid in einer Vielzahl von Lebensmitteln im Frühjahr des Jahres 2002 durch schwedische Wissenschaftler, sind immense Bestrebungen sowohl von Seiten der Lebensmittelindustrie als auch der Behörden und Forschungseinrichtungen unternommen worden, relevante Erkenntnisse zu gewinnen, um die Gehalte auf breiter Linie zu senken.

Foodborne toxicant

In Fachkreisen war es schnell klar, dass es sich bei den Befunden um keine Kontamination und dementsprechend auch nicht um einen so genannten neuen Lebensmittelskandal handelte, sondern dass diese Substanz unter bestimmten Umständen bei der Herstellung von Lebensmitteln sowohl im gewerblichen als auch im häuslichen Bereich entsteht (sog. foodborne toxicant). Nach dem derzeitigen Kenntnisstand sind

• die als Bausteine der Eiweiße bekannten Aminosäuren (insbesondere wohl freies Asparagin) sowie
• reduzierende Zucker (Glucose, Fructose etc.) als Reaktionspartner,
• geeignete Temperatur-Zeit-Verläufe und
• stabilisierende Parameter (offenbar die Anwesenheit von Stärke, niedriger Wassergehalt u.a.) für die Bildung und das

Vorhandensein von Acrylamid ausschlaggebend.

Obwohl damit die Entstehung aus lebensmittelchemischer Sicht in den Gesamtzusammenhang der sog. Maillard-Reaktion (nicht-enzymatische Bräunung) einzuordnen ist, sind die genauen Mechanismen der Bildung aber noch ungeklärt, ebenso wie die unzureichende Datenlage der Toxikologie keine abschließende Risikobewertung zum Gefährdungspotential von Acrylamid beim Menschen gestattet. Da Acrylamid aber in Tierversuchen krebserzeugend und erbgutverändernd wirkt, wird aus Gründen des vorbeugenden gesundheitlichen Verbraucherschutzes alles Mögliche unternommen, um die Acrylamidgehalte in Lebensmitteln zu minimieren (ALARA-Prinzip: as low as reasonably achievable).

Signalwerte – Ein Novum

Grenzwertfestsetzungen sind derzeitig weder toxikologisch begründbar noch technologisch umsetzbar. Aus diesen Gründen wurde in Deutschland in gemeinsamen Anstrengungen von Lebensmittelindustrie und Regierung bzw. Behörden eine wirksame Strategie auf der Basis eines so genannten Minimierungskonzeptes entwickelt. Dieses Konzept ist gänzlich neu sowie auch das Problem Acrylamid ein Novum darstellt und orientiert sich an der Aufstellung von kontinuierlich überprüften so genannten Signalwerten. Die Signalwerte dienen der stufenweisen Minimierung der unerwünschten Acrylamidgehalte in bestimmten Lebensmitteln und sollen den Herstellern und den Überwachungsbehörden als Marke/Signal eine Orientierungshilfe geben, bei welchen Erzeugnissen sie vorrangig Maßnahmen ansetzen müssen. Die Ermittlung der Signalwerte wird aufgrund von Messergebnissen von der neuen Behörde BVL – Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit – zusammen mit den Länderbehörden so vorgenommen, dass die Untersuchungsergebnisse für einzelne Lebensmittelgruppen zusammengetragen und dabei 10% der jeweils am stärksten mit Acrylamid belasteten Lebensmittel ausgegrenzt werden (sog. 90. Perzentil). Der unterste Wert der 10% am höchsten belasteten Lebensmitteln in einer Warengruppe ist somit der Signalwert.

Dynamisches Minimierungskonzept

Die Signalwerte sollen in regelmäßigen Abständen (6–8 Wochen) durch Datenaktualisierung überprüft und entsprechend angepasst werden. Bei Signalwerten oberhalb von 1.000 µg Acrylamid/kg Lebensmittel (= ppb) sollen grundsätzlich alle Produkte in die Minimierungsbemühungen einbezogen werden, auch wenn sie nicht zu den 10% am höchsten belasteten Lebensmittel gehören.

Herausforderung

Dieses Konzept setzt voraus, dass hinsichtlich der Lebensmittelimmanenten Acrylamidbildung

• die technologischen Prozessparameter entsprechend steuerbar bzw. Prozessänderungen unter Beibehaltung der

Produktcharakteristika machbar,

• Konzentrationen bzw. Reaktivitäten der Reaktionspartner beeinflussbar und
• Eliminations- bzw. Freisetzungsvorgänge von gebildetem Acrylamid maßgeblich verstärkbar sind.

Das jedoch ist eine immens schwierige und komplexe Aufgabe, so dass neben Wissenschaft und Industrie auch der ganze Sachverstand der Behörden – und dies selbstverständlich auf nationaler und internationaler Ebene – gefordert ist. Das LCI ist dank der zusätzlichen Ausstattung durch die im Bundesverband der Deutschen Süßwarenindustrie organisierten Unternehmen mit einem entsprechenden Analysengerät (LC-MS/MS) nebst Fachpersonal seit Oktober 2002 in der Lage, systematische Acrylamid-Untersuchungen schnell und exakt durchzuführen.

SÜSSWAREN (2002) Heft 12

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