Neubewertung der Toxizität von Acrylamid

Aktuelle Forschung zeigt keine Evidenz für die Genotoxizität bei verbraucherrelevanter Exposition und belegt eine endogene Acrylamidbildung

Gut 18 Jahre ist es nun her, dass eine schwedische Forschergruppe durch Zufall auf die inzwischen umfassend untersuchte Substanz Acrylamid (AA) in Lebensmitteln traf und diese als Prozesskontaminante, also als Kontaminante, die im Rahmen des Herstellungsprozesses von Lebensmitteln entsteht, entdeckte. Acrylamid entsteht im Rahmen der Maillard-Reaktion aus der freien Aminosäure Asparagin und bestimmten reduzierenden Zuckern (Glukose und Fruktose). Es bildet sich während des Backens, Röstens und Frittierens unter trockenen Bedingungen bei Temperaturen über 120°C und findet sich in Erzeugnissen wie Kartoffelchips, Pommes frites, Brot, Keksen und Kaffee.

Aus toxikologischer Sicht ist die Aufnahme hoher Acrylamidmengen als durchaus relevant einzustufen: Acrylamid wurde von der IARC (International Agency for Research on Cancer) im Jahre 1994 in die Kategorie 2A, wahrscheinlich kanzerogen beim Menschen eingeordnet. Es wird angenommen, dass die krebserzeugende Wirkung von AA primär auf seiner metabolischen Oxidation zum genotoxischen Metaboliten Glycidamid (GA) beruht. Sowohl AA als auch GA sind hochreaktiv und können im Organismus mit zahlreichen Biomolekülen, wie Aminosäuren, Peptiden (Hauptvertreter Glutathion, GSH), mit Plasmaproteinen wie Albumin sowie mit dem Blutfarbstoff Hämoglobin (Hb) in den roten Blutkörperchen kovalente Bindungen eingehen. Solche Reaktionen mit körpereigenen Stoffen, bei denen vor allem die Reaktion mit Glutathion (GSH) im Vordergrund steht, gelten als Entgiftungsreaktionen. Sie tragen dazu bei, dass ein erheblicher Anteil des aufgenommenen AA der metabolischen Aktivierung zum genotoxischen GA entzogen wird. GSH-Addukte von AA bzw. GA werden metabolisch zu den entsprechenden Mercaptursäuren (MA) umgewandelt und im Urin ausgeschieden (s. Abbildung).

Abbildung 1 Metabolismus von Acrylamid im menschlichen Körper Giftung/Entgiftung [Eisenbrand, G Neues zur Prozesskontaminante Acrylamid, Wpd Moderne Ernährung heute, Nr. 1, Februar 2019]






Bisherige Einschätzung
Da Studien an Menschen begrenzte und widersprüchliche Hinweise auf ein erhöhtes Krebsrisiko erbracht haben, Untersuchungen an Labortieren jedoch gezeigt haben, dass die Exposition gegenüber Acrylamid im Futter die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung von Genmutationen und Tumoren in verschiedenen Organen erhöhte, teilte die EFSA bisher die Einschätzung der IARC. Die Sachverständigen der EFSA stimmten mit früheren Bewertungen überein, dass Acrylamid in Lebensmitteln das Risiko der Krebsentwicklung bei Verbrauchern aller Altersgruppen erhöhen könnte. Dies gilt für alle Verbraucher, wobei Kinder (bezogen auf das Körpergewicht) die am stärksten exponierte Altersgruppe darstellen. 2015 veröffentlicht die EFSA ihre erste vollständige Risikobewertung zu Acrylamid in Lebensmitteln, das den Sachverständigen der Behörde zufolge das Krebsrisiko für Verbraucher aller Altersgruppen potenziell erhöht. Das Gremium kam zu dem Schluss, dass die derzeitigen Mengen an AA-Exposition über die Nahrung im Hinblick auf nicht-kanzerogene Wirkungen nicht bedenklich sind. Obwohl nicht nachgewiesen wurde, dass AA beim Menschen krebserregend ist, deuten die Expositionsmargen (Margins of Exposure, MOEs) jedoch auf mögliche kanzerogene Wirkungen hin, die auf Tierversuchen beruhen.


Revision der Toxizitätseinschätzung
2019 wurde die Toxizitätsbetrachtung zu Acrylamid durch Wissenschaftler der Universität Kaiserslautern um den Toxikologen Professor Dr. Gerhard Eisenbrand neu aufgerollt. Er schlussfolgerte aus der Auswertung diverser aktueller Studien, dass die derzeitige Forschung keine Evidenz für die Genotoxizität bei verbraucherrelevanter Aufnahme von Acrylamid aus der Nahrung zeigt und belegte zudem eine endogene Acrylamidexposition, die der aus der Nahrungsaufnahme gleichkommt.
Eisenbrand geht ebenso wie vorherige Risikobewertungen davon aus, dass sowohl AA als auch GA hochreaktiv sind und im Organismus mit zahlreichen Biomolekülen – insbesondere mit Glutathion (GSH) – Bindungen eingehen. Weiterhin wurden bei mittlerer Aufnahme von AA (50 – 100 µg/kg Körpergewicht) Addukte mit Hämoglobin in den Erythrozyten gefunden. Diese Reaktionen dienen der Entgiftung und tragen dazu bei, dass ein erheblicher Anteil des aufgenommenen AA der metabolischen Aktivierung zum genotoxischen GA entzogen wird. Außerdem sorgt die GSH-Kopplung dafür, dass im verbraucherrelevanten Expositionsbereich das in der Leber gebildete GA effektiv entgiftet wird.
Die von Eisenbrand betrachteten epidemiologischen Studien zeigten keinen Zusammenhang zwischen erhöhtem Krebsrisiko und ernährungsbezogener AA-Exposition des Menschen. Die Ergebnisse ließen zudem den Schluss zu, dass im niederen, verbraucherrelevanten Aufnahmebereich (bis 100 µg/kg Körpergewicht bei Ratten) keine Genotoxizität von AA über die metabolische GA-Bildung zu erwarten ist und auch ob die Tumorbildung im Bereich höherer Dosen durch die Genotoxizität von GA verursacht wird, ist nicht klar. Der vermutete genotoxische Schlüsselmetabolit von AA, GA ist zudem ein eher schlechtes Mutagen, das vorwiegend Läsionen induziert, von denen bekannt ist, dass sie eher geringe (oder nicht vorhandene) mutagene Aktivität bei biologisch relevanten Dosen zeigen.
Weiterhin zeigen Ergebnisse aus Tierversuchen und kontrollierten Interventionsstudien beim Menschen, dass AA nicht nur aufgenommen, sondern auch beständig endogen („im Körper selbst“) gebildet wird. Kontrollierte Interventionsstudien bestätigen diese Hypothese auch beim Menschen, bei dem die endogene Exposition in einem Bereich liegt, der der durchschnittlichen Verbraucherexposition über Lebensmittel durchaus nahekommen kann. Auch für weitere Prozesskontaminanten ist bekannt, dass sie im Stoffwechsel gebildet werden können.

Eisenbrand zufolge unterstützt die Gesamtheit der neuen Erkenntnisse nicht die Theorie eines genotoxischen Wirkmechanismus bei Mensch und Tier. Während AA selbst zweifellos nicht genotoxisch wirkt, kann das durch metabolische Umwandlung gebildete Epoxid GA durch kovalente Bindung DNA-Schäden auslösen. Für diese Theorie liegen jedoch nicht ausreichend Beweise vor. Die Genotoxizität von AA tritt nur bei übermäßig hohen Dosen auf, die bei der Höhe der ernährungsbedingten Exposition nicht relevant für den Verbraucher sind. Für die für die Vermutung der Genotoxizität von AA zugrundeliegende Tumorbildung in Nagetieren soll ein nicht-genotoxischer Mechanismus verantwortlich sein, der jedoch artspezifisch für Nagetiere ist und somit im Menschen nicht ist. Zusammenfassend sprechen die neuen Erkenntnisse zur Toxizität und zur endogenen Bildung von AA für eine Revision der Risikobewertung in Richtung einer möglichen Festsetzung einer tolerierbaren Tagesdosis (TDI) auf Grundlage eines NOAEL-Wertes (No observed adverse effect level). Die Frage ist allerdings, ob und wann diese neuen, bedeutsamen, ja sogar revolutionären Erkenntnisse zu einem Umdenken in den Köpfen der EU-Risikomanager bzw. der Kommission führen werden.